Monday, August 3, 2009

Dosopin

Rolf-Peter Wille


Schwül stand ihm die Nacht entgegen als er sich aus dem Küchenfenster lehnte. Sie klebte als Gestank auf dem Wellblech der Dächer unter ihm und mit ihren Ausdünstungen erstickte sie die wabernde Stadt. Abfall zu Abfall - W. schmiss die Plastiktüte in ihren Schlund hinein, dann lauschte er der vergifteten Nacht, als wenn er ihre Rache erwartete. Sofort nach dem Aufprall protestierte die Alarmanlage eines Autos, doch so weit konnte die Tüte nicht geflogen sein. Sie war verschluckt nun; unauffindbar.

Das Grelle der Kacheln starrte auf W. und zwang ihn, sich zum Fenster zurückzuwenden. Eine Weile schwankte er, verwirrt, zwischen dem Schwarz der Nacht und dem Weiß der Küche. Hellwach seit sechs Tagen hatte er eben sein Dosopin, den Traum seines Schlafes, aus dem Fenster geschmissen. Er wollte sich zurückklicken, heraus aus diesem Fenster, auf eine andere Seite, aber es gab da nichts, was er noch anklicken konnte. Er öffnete die Schublade, doch die Tüte lag nicht darin. Der Wahnsinn hatte ihn überlistet und nun würde er sterben ohne die Tabletten.

Im Wohnzimmer empfing ihn wärmeres Licht; ein milder Schein lag auf den antiken Vasen, seiner Sammlung, und der alte Wandspiegel war mit einem indischen Stoffe verhängt. Verändert hatte sich nichts. W. setzte sich auf seine Tatami im Sitz tibetischer Mönche, die den Schlaf durch Meditation ersetzen, und begann systematisch damit, seine Glieder zu entspannen. Er lauschte seinem Atmen, dem Puls des Alls, bis sein Körper in angenehmer Mattigkeit erstrahlte. So, kristallisiert, ließ sich die Ewigkeit ertragen.

Raum und Zeit waren verwischt und er wusste nicht, wie lange er als Kristall gesessen hatte. Die Substanz seines Körpers hatte sich plötzlich verändert, denn W. empfand die strahlende Trance nun als lähmend und ein brennendes Gift zerfraß seine innere Ruhe. Die Ewigkeit war eine Hölle. Das Teuflische begann ihm einzuflüstern, nach der Tüte zu suchen, während ihm sein Wille befahl sitzen zu bleiben.

Er stand auf, strauchelte etwas, und ging zur Küche. Er öffnete das Fenster und steckte seinen Kopf in die stickige Nacht. Zwölf Stockwerke unter ihm strich eine räudige Katze an der Kloake entlang durch die Gasse. Sie schien sehr schreckhaft und blickte sofort in die Höhe. Wahrscheinlich hatte sie das Dosopin bereits verspeist, aber dann wäre sie wohl eingeschlafen. Weit vom Haus konnten die Pillen nicht gefallen sein und man sollte sie bei systematischer Suche also finden.

In fiebernder Hast und im Fahrstuhl zog er sich an. Katzenartig strich er durch die verräucherte Lobby. Beleuchtet wurde sie von dem violetten Licht einer Moskitofalle, in der die Mücken hin und wieder explodierten. Hinter der Theke schnarchte der Portier, aber seinen Schlummer ließ der sich nicht stehlen. Sollte er etwa das Dosopin gefunden haben?

W. zögerte nicht lange. Er bog um die Arztpraxis an der Ecke und in die schmale Dreckgasse hinter seinem Hochhaus. Von hier unten aus war es nicht leicht, sein Küchenfenster zu bestimmen; mit der Taschenlampe leuchtete er hinauf, aber ihr Schein war zu schwach. Er glaubte jedoch, den Platz gefunden zu haben, an dem er die durchhuschende Katze vom Fenster aus erspäht hatte. Sofort leuchtete er in den Abzugskanal, der wie ein verstopfter Dickdarm durch die Gasse quoll. Offensichtlich war W. nicht der einzige Hausbewohner, der seinen Abfall aus dem Fenster warf. Die Kloake und eigentlich die ganze Gasse stank und starrte von verfaulenden Früchten, Plastiktüten, und sogar einen verrosteten Rollstuhl fand W. Nicht ungefährlich war es wohl, hier zu suchen, denn jeden Moment konnte ein Meteor auf ihn fallen. Von der Wand des Hinterhauses war fast nichts zu sehen. Eine gierige Kletterpflanze hatte sie verschlungen. Offensichtlich hatte sich das erstickte Haus gerächt, denn der Stamm des vampirischen Gewächses war kurz oberhalb der Wurzel durchsägt und es wirkte nun wie das Gerippe eines Weihnachtsbaumes, den man mit Unrat angeplündert hatte. W. durchleuchtete die abscheuliche Szene, zog verschiedene Tüten aus dem Schlamm der Kloake, aber die Dosopintüte war nicht darunter. Er erlitt einen Schweißausbruch. Die summenden Klimaanlagen der Erdgeschosse bliesen feucht heiße Luft in die Gasse. W., der von Mücken zerstochen war, rettete sich aus dieser Sauna, indem er auf die Mauer kletterte, welche die Gasse von einem Parkplatz trennte. Von hier aus hatte er einen besseren Überblick und konnte auch auf die kleinen Wellblechdächer über den Klimaanlagen schauen; allerlei Unrat lag dort doch seine Tüte nicht. Schließlich sprang er auf der Parkplatzseite von der Mauer. Der Platz war nahezu leer, der Asphalt gut überschaubar; fast hatte er seine Suche beendet, als er einen Blecheimer neben der Mauer bemerkte. Vielleicht hatte jemand sein Dosopin gefunden und hineingeworfen. Als er sich dem verbeulten Gebilde näherte, bemerkte er eine Bewegung darin. Es schien lebendig und der Abfall schwappte über, als wenn sich der Eimer erbräche. Fauchend sprang plötzlich die Katze heraus und flüchtete sich an der Mauer entlang ins Dunkle. W. übernahm sofort die Rolle des Tieres und durchwühlte den Eimer. Nach einer Weile gab er auf.

Als W. vor der Glastür stand, fiel ihm ein, dass er keinen Schlüssel eingesteckt hatte. Seine Sorge jedoch war unbegründet, denn plötzlich hörte er ein Motorrad, ein kokettes "Tschüss"; ein Mädchen mit Hausschlüssel überholte ihn und schloss die Tür auf. Im Fahrstuhl zog sie einen Lippenstift aus der Handtasche, während das überschminkte Gesicht in den Spiegel starrte und die geschürzten Lippen überprüfte. Dabei berühte ihr Mund das Glas und einen Moment sah es so aus, als wenn die Gestalt dort ihr eigenes Spiegelbild küsste. W., der sich in die Ecke gedrückt hatte, glaubte ein süßliches Aroma, wie Abfall, zu riechen. Das bin ich wohl selber, dachte er und war froh als er im zwölften Stock den Fahrstuhl verlassen konnte.

Ein Schauer wird mir wohltun, dachte W., doch dann bemerkte er die Morgendämmerung sowie einen starken Hunger. In der Küche begann er Kaffee zu mahlen; nicht eigentlich um ihn zu trinken, sondern weil er Kaffeearoma riechen wollte. Nachdem er seinen Haferbrei gegessen hatte, ging er in die Küche, wo er den Kaffee aufgoss. Das Ritual gab ihm Geborgenheit. Durch den Smog schien die Morgensonne. Es war nun recht hell geworden. W. ging sofort zum Fenster. Er hatte noch nicht seinen Kopf hinausgesteckt, als er bereits die Tüte sah. Sie lag, acht Stockwerke unter ihm, auf dem Wellblechdach des Hinterhauses; offenbar hatte er seine Wurfkraft unterschätzt und das Dosopin die Gasse überflogen. Außer der Tüte gab es nur zwei fette Tauben auf dem Dach. An Schlaflosigkeit schienen die nicht zu leiden , denn sie kümmerten sich nicht um die Pillen. Die Neigung des Wellblechdaches war nur sehr gering und die Tüte nicht weit vom First entfernt. Vom Dachgarten des Hinterhauses aus sollte man leicht auf das Dach gelangen können.

Im Fahrstuhl traf W. eine alte Frau mit Glubschaugen und Lockenwicklern. "Ins Büro?" krächzte sie begrüßend.

"Spazieren..." murmelte W.

"Ah, Frühsport, Frühsport!" schrie sie begeistert und verrenkte ihre Glieder, um sich besser verständlich zu machen. Der Portier in der Lobby war aus seinem Dämmerschlaf erwacht und blinzelte neugierig.

"Können Sie mir helfen?" fragte W. "Ich suche etwas im Hinterhaus. Gibt es einen Portier dort?"
"Hinterhaus..." fragte der Portier und W. deutete mit seinen Armen die Richtung des Hauses an. "Schule der Freiheit? Um 7 Uhr machen die auf."

W. war froh, dass er eine vernünftige Antwort erhalten hatte, obwohl er nie etwas von dieser Schule gehört hatte. Er bog um die Arztpraxis, vermied die Kloakengasse und suchte den Vordereingang des Hinterhauses.

Tatsächlich flatterte vom Balkon der Beletage eine große Fahne mit der Freiheitsstatue. Die " Oxbridge Liberty School " war ein englischsprachiger Kindergarten und zwei silberne Limousinen mit livrierten Fahrern parkten vor dem Eingang. Dass er vor dem richtigen Haus stand, konnte W. kaum glauben; als er jedoch in die Höhe schaute, erkannte er das überragende Wellblechdach und die rankenden Reste der Kletterpflanze, hier an der Vorderseite des Hauses aber bereits grün übermalt. Mit einem Säugling auf dem Arm trat eine schlanke Mutter aus dem Eingang. Etwas jung für einen Freiheitsschüler, dachte W.; dann fiel ihm ein, dass dies wohl Hausbewohner der oberen Stockwerke sein könnten. "Wohnen Sie hier?" fragte er die junge Frau. "Ich wohne dort oben im zwölften Stock des Hauptgebäudes. Gestern nacht ist mir etwas aus dem Fenster gefallen. Es liegt hier oben auf Ihrem Dach."

Die Frau beantwortete diese Frage, indem sie ins Haus zurückging. Wenig später erschien ein junger Mann, den W. oft gesehen zu haben glaubte. "Ah, der Herr Professor!" grüßte er W., der sich ertappt fühlte doch seine Geschichte wiederholte. "Sind Sie sicher, dass es unser Dach ist?" fragte der Mann.

"Ja," sagte W., "es ist eine Tüte mit Medizin. Ich habe sie von oben gesehen."

"Schauen wir."

Durch das helle Klassenzimmer gingen sie an winzigen Tischchen, mit Stofftieren und Computern beladen, vorbei. Gleich neben der Tafel stand, bunt angemalt, die mannshohe Freiheitsstatue; sie starrte auf W. und wies mit dem rechten Arm in Richtung Dach. Recht düster ward es dann im Treppenhaus, denn das Gestrüpp der toten Kletterpflanze draußen ließ kaum Licht durch die trüben Hinterfenster fallen. W. jedoch, nah am Ziel, fühlte sich erleichtert. In der Tat zog der Mann sofort einen Schlüssel aus seiner Jacketttasche, um die verrostete Eisentür zum Dachgarten aufzuschließen. Bald standen sie im Freien zwischen Bonsai Bäumen und anderen Topfpflanzen unter dem Wellblechdach. Windeln hingen hier an einer recht straff gespannten Wäscheleine zum Trocknen und W. vermutete, dass sie von dem Säugling, dem zukünftigen Oxbridge Schüler, stammten. Das Wellblech machte von unten einen außerordentlich schäbigen Eindruck; das aber schien den jungen Mann keineswegs einzuschüchtern. Sein Jackett hängte er neben die Freiheitswindeln; sportlich zog er sich an einem Eisenträger in die Höhe, bis er das Wellblechdach von oben überblicken konnte. Kurze Zeit später stand er wieder neben W. "Ich habe Ihre Tüte gesehen. Sie ist zu weit weg. Aber wenn sie wollen, können Sie es versuchen."

Er half W. aus dem Jackett und hängte es ebenfalls neben die Windeln, nachdem er sein eigenes abgenommen hatte. Er holte eine Klappleiter aus Aluminium, die er an den Eisenträger lehnte, so dass W. bequem auf den Dachfirst klettern konnte. Sofort legte der sich auf den Bauch, um sein Gewicht zu verteilen. W., auf dem Dachfirst liegend, sah die Tüte in einiger Entfernung rechts unterhalb des Firstes. Links saßen noch immer die fetten Tauben und kümmerten sich nicht um ihn. W., der sich beobachtet fühlte, blickte hinauf auf die Hinterseite seines Hochhauses. In einem Fenster des zehnten Stocks winkte ihm ein Medusa Kopf mit Lockenwicklern. Die Frau fuchtelte mit den Armen wie ein Cheerleader, der W. bei seinem Frühsport anfeuern wollte. Dieser, freiheitlich, erwiderte den Gruß und hob seinen rechten Arm. Dabei allerdings verlor er die Balance; die Finger der linken Hand hielten sich noch am First fest, während sein Körper auf der Dosopinseite des Daches langsam abrutschte. Sofort ergriff er den Dachfirst mit beiden Händen; er versuchte sich aufzurichten - ein Fehler. Das Dach knirschte mit den Zähnen, W. fühlte sich in das trügerische Eis eines Sees einbrechen, seine Beine sackten hinunter, es gab einen scharfen Knall. Unter ihm stand eine mannshohe Wellblechplatte. Abgebrochen war sie so eigenwillig auf dem Dachgarten gelandet, dass sie nun steil neben den Windeln an der Wäscheleine lehnte. W. hing am Dachfirst wie an einer Reckstange und überlegte, ob er hinabspringen sollte.

Zum Glück war der junge Mann mit der Klappleiter sofort zur Stelle. Er inspizierte die Blechplatte, während W. hinabkletterte. "Noch in Ordnung..." murmelte er und half W., der beschämt nach unten schaute, in sein Jackett. "Es lohnt sich nicht; safety first! Ich rate Ihnen, zum Arzt zu gehen - Sie sind doch versichert! Lassen Sie sich neue Medizin verschreiben. Hier unten an der Ecke ist Dr. Chens Klinik. Um 9 Uhr macht er auf.

Sie verließen den Dachgarten. Bereits im Dunkel des Treppenhauses hörten sie Kindergeschrei; dann standen sie im Klassenzimmer. Die Schüler klatschten in die Hände als sie W. sahen. Grinsend mußte er sich neben die Freiheitsstatue stellen, und die Lehrerin knippste ihn mit ihrer Kamerabrille. Froh war er, als er wieder auf der Straße stand.

Pünktlich um 9 Uhr ließ er sich bei Dr. Chen registrieren, doch erst um 3 Uhr wurde er ins Arztzimmer gerufen. "Sie haben Ihr Dosopin aufs Dach geworfen?!" lachte Dr. Chen.

"Woher wissen Sie das?" fragte W. "Ich leide an Schlaflosigkeit. Ist das eine Entzugserscheinung?"

"Wann haben Sie aufgehört mit dem Dosopin?"

"Vor sechs Tagen."

"Nun, dann fangen Sie eben wieder an!" lachte Dr. Chen.

"Macht es nicht abhängig?"

"Ach was; ich nehme auch Dosopin." Er reichte W. eine bunte Packung. "2 mg nachts, 1 mg am Tage. Wir nehmen alle Dosopin. Jetzt schlafen Sie sich erst einmal aus!"



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